Wenn Frankfurt zu Literatur wird

Der kleine Sammelband „ACHT ORTE – ACHT AUTOR:INNEN“ erkundet die Mainmetropole: Die Goethe-Universität ist gleich zweimal vertreten.

Das Frankfurter Literaturhaus und das Deutsche Architekturmuseum hatten acht Schriftsteller:innen, einige von ihnen aus Frankfurt, damit beauftragt, ausgewählte Stadtviertel und Gebäude, deren Architektur und vor allem Geschichten, literarisch zu erkunden. Acht Orte wurden vorgegeben, darunter auch zwei der Goethe-Universität, nämlich der Campus Bockenheim und der Paternoster im IG-Farben-Haus. Integraler Bestandteil der vier Lesungen – jeweils zwei Texte wurden präsentiert – waren Bustouren zu den Örtlichkeiten: Die Autor:innen standen bei den Besichtigungen der von ihnen beschriebenen Örtlichkeiten im engen Kontakt mit ihrem Publikum.

Literaturhaus Frankfurt/Deutsches Architekturmuseum: ACHT ORTE – ACHT AUTOR:INNEN Frankfurt am Main: Henrich Editionen 2025
Literaturhaus Frankfurt/Deutsches Architekturmuseum: ACHT ORTE – ACHT AUTOR:INNEN Frankfurt am Main: Henrich Editionen 2025

Silke Hartmann, Kulturmanagerin und Leiterin des Projektteams „ACHT ORTE“, erläutert im Gespräch mit den anderen Herausgeber*innen die Besonderheiten des Buchprojektes: „Alle Betrachtungen haben auf ihre Weise neue Blickwinkel eröffnet und im Zusammenspiel mit den Bustouren die Orte auf vielfältige Arten lebendig gemacht. Manche Orte erstrahlen in den Geschichten in altem Glanz, wie etwa der Campus Bockenheim mit seinen 68er Revolten, oder die Bar in der Jahrhunderthalle, in denen die Jazz-Größen dieser Welt zu Gast waren. Andere erinnern an dunkle Zeiten, aber auch an den Widerstand, wie etwa das IG-Farben-Haus oder die Riederwaldsiedlung. Täglich Gesehenes wird neu beleuchtet und vielleicht anders fokussiert, wie das Bahnhofsviertel, die Kleinmarkthalle oder das Europaviertel. Und so manche Geschichte endet überraschend und schön dabei.“

Der Autor Eckhart Nickel („Punk“) nähert sich in seinem Text „Alma Vater“ dem Campus Bockenheim von drei Seiten: erstens über Erinnerungen an seinen Vater, der in bewegten (Protest-)Zeiten als Familienfürsorger im Dienst der Stadt Frankfurt stand und direkten Kontakt zur Studentengeneration hatte; zweitens über seine (kurze) Zeit als Student der Geisteswissenschaft an der Goethe-Universität in den späten 80er Jahren; drittens über einen journalistischen Auftrag, über den Architekten des Campus Bockenheim, Friedrich (sic!) Kramer, zu schreiben. Nickel schreibt mit einer gewissen Distanz über eine Universitätskultur, die wie die Gebäude auf dem Campus aus der Zeit gefallen zu sein scheint; aber über seinen Vater, der selber nur Beobachter, kein Protagonist der Campuskultur war, findet er einen Zugang zu Drogenexzessen und der selbst in der Popkultur präsenten Psychoanalyse der 60er Jahre; obwohl er nur ein Jahr in Frankfurt studiert hat, bezeichnet Nickel die Zeit als „wichtigste und grundlegendste Erfahrung von Wissenschaft“. Auch den von vielen anderen Zeitgenossen ob ihrer Zweckrationalität gescholtenen Gebäuden Kramers vermag Nickel etwas abzugewinnen: Die „bereits im Verfall befindliche Moderne“ passt in seiner mehrfach gebrochenen Rückschau gut zur Negativität der 80er Jahre, mit dem Sound der Band The Smiths.

Die Schriftstellerin Anna Yeliz Schentke („Kangal“), zugleich Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität, erzählt in ihrem Text „Perlucidus“ von einer kauzig-eigenbrötlerischen Figur namens Brotmann, die unbemerkt im IG-Farben-Haus lebt. Wenn Mitarbeitende und Studierende das Gebäude verlassen haben, startet er von seiner heimlichen Kammer aus seine Streifzüge. Mit dem Generalschlüssel bewaffnet, inspiziert er mutterseelenallein Gänge und Treppenhäuser und fährt anschließend mit dem Paternoster, liest im UniReport und sinniert über die Verurteilten der IG Farbenindustrie AG. Als Form ausgestellter Intertextualität lässt Schentke ihren Protagonisten ausgerechnet Heinrich Bölls Kurzgeschichte „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ lesen; deren gleichnamiger Held ist ebenso dem Paternoster des Funkhauses verbunden, in dem kurz nach dem Krieg ehemalige Nationalsozialisten ihr Unwesen treiben. Doch die offensichtlichen geschichtlichen Parallelen und Bezüge werden von Brotmann selber relativiert: „Der Murke ist ganz anders als ich, dachte er sich. Ich bin in der Universität, er im Rundfunkhaus. Es ist nur der Paternoster, den wir gemeinsam haben.“ Am Ende der Nacht hat Brotmann die Kurzgeschichte beendet und kehrt zurück in seine Kammer und damit in die Endlosschleife seines Lebens.

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