Der Allgemeinmediziner Ferdinand Gerlach über die Zukunft des Gesundheitswesens

Krankenhausreform, elektronische Patientenakte, Telemedizin: Kaum ein Tag vergeht, ohne dass die Zukunft des Gesundheitswesens in den Schlagzeilen wäre. Prof. Ferdinand Gerlach hat die Politik viele Jahre als Vorsitzender der »Gesundheitsweisen« beraten. Ein Gespräch über verkrustete Strukturen und verschlafene Entwicklungen – aber auch über die Chancen der Digitalisierung und die bedeutsame Rolle des Hausarztes.
Forschung Frankfurt: Herr Professor Gerlach, in vielen Beiträgen in dieser Ausgabe von »Forschung Frankfurt« geht es um die Möglichkeiten einer immer individuelleren Therapie. Brauchen wir mehr Fachärzte und weniger Generalisten?
Ferdinand Gerlach: Das ist eine schöne Frage für einen Generalisten. Wenn wir viele Spezialisten und Supramaximalspezialisten haben, muss es auch einen geben, der die Dinge wieder zusammenführt. Der den Überblick behält und gemeinsam mit dem einzelnen Patienten individuell angemessene Entscheidungsfindung macht und, wenn es hart auf hart kommt, auch mal mit dem Patienten spricht. Der bei Mehrfacherkrankten zwischen verschiedenen Spezialisten vermittelt, auch um die Patienten vor zu viel oder falscher Medizin zu schützen. Je mehr Spezialisten, umso mehr Ideen, umso mehr Diagnostik- und Therapieansätze, die dann aber oft unkoordiniert sind.
Welche Vorteile hat eine zentrale Steuerung durch den Hausarzt?
Wir nennen das ein »Gatekeeping- oder Primärarztsystem«: In allen skandinavischen Ländern, den Niederlanden oder Großbritannien ist das selbstverständlich. Wir kennen das aus historischen Gründen nicht, mit Ausnahme zum Beispiel von Baden-Württemberg: Dort haben sich rund zwei Millionen Patienten freiwillig für die Hausarztzentrierte Versorgung, kurz HzV, entschieden. Wir haben das über inzwischen 15 Jahre wissenschaftlich evaluiert und konnten zeigen, dass die Koordination durch Hausärzte zu einer besseren Patientenversorgung führt. Bei 119 000 Diabetikern konnten so in nur zehn Jahren über 11 000 schwerwiegende Komplikationen vermieden werden – darunter Erblindungen, Amputationen, Herzinfarkte, Schlaganfälle.
Was spricht dagegen, ein solches System auch bei uns einzuführen?
Das Dogma der freien Arztwahl. Die Freiheit, jeden Spezialisten direkt aufsuchen zu können, wird hierzulande als etwas Positives wahrgenommen. Es ist aber nicht positiv, wenn Sie wegen Kopfschmerzen unkoordiniert zum falschen Facharzt gehen, der viel unnötige und manchmal auch falsch positive Diagnostik macht. Und wir fahren in Deutschland ja zweigleisig: Wir haben sehr viele Fachspezialisten im ambulanten Bereich und in den Kliniken. Das führt zu erheblichen Koordinationsproblemen. Es geht um gezielte Überweisungen zum richtigen Facharzt.
Doch wenn es schnell gehen muss mit dem Facharzt, wird es schwierig. Dann brauche ich einen Dringlichkeitscode auf der Überweisung.
Die vor allem für gesetzlich versicherte Patienten spürbaren Terminengpässe liegen nicht an einem generellen Mangel an Spezialisten, Kliniken oder Hausärzten, sondern an Fehlanreizen und enormer Ineffizienz des Systems. Nehmen wir die Quartalsabrechnung der Praxen: Wenn in einem Quartal die Leistungsmengen ausgeschöpft sind, rentiert es sich nicht, neue Patienten zu nehmen. Dann gibt es für die wirklich Kranken, für die schwer und mehrfach Erkrankten oder auch für dringliche Fälle zu wenig Termine. Letztlich führen Fehlanreize dazu, dass die Praxen überquellen und verstopft sind mit Patienten, die da zudem oft gar nicht hingehören.
Gibt es weitere Fehlanreize?
Ja. Bei uns wird der Arzt nur bezahlt, wenn er etwas tut. Wenn er dem Patienten sagt, ist nicht schlimm, schlafen Sie sich aus, bewegen Sie sich, ernähren Sie sich anders, dann kriegt er kein Geld. Ohne Diagnostik oder Therapie schadet sich der Arzt betriebswirtschaftlich selbst. Das führt dazu, dass im ambulanten Bereich möglichst viele einzelne Leistungen auf mehrere Quartale verteilt werden. Im stationären Bereich führen die Fallpauschalen dazu, dass möglichst viele Linksherzkatheter gemacht werden, viele Knieendoprothesen, Hüftendoprothesen, Wirbelkörperoperationen – auch wenn Physiotherapie im Einzelfall sinnvoller wäre. Ärzte und Kliniken verhalten sich gezwungenermaßen anreizkonform: So werden in großem Stil Leistungen erbracht, die betriebswirtschaftlich lukrativ sind.
Was wäre die Alternative?

Zum Beispiel das skandinavische System: Sie sind bei einem selbst gewählten Hausarzt eingeschrieben. Die Praxis wird dafür bezahlt, dass sie Sie gut versorgt. Je gesünder Sie sind, umso besser für die Praxis. Hierzulande ist Gesundheit überspitzt gesagt »geschäftsschädigend«. Gesunde Patienten kommen nicht zum Arzt oder in die Apotheke, brauchen keine Diagnostik oder Therapie. Unser System hat einen impliziten Anreiz, die Menschen krankzuhalten. Das ist fatal, aber leider wahr.
Für Praxen sind chronisch Kranke die besten Patienten.
Eine Praxis kriegt nur Geld, wenn sie irgendwas tut. Sie kann nur Leistungen abrechnen, wenn sie sagt, Sie sind krank oder wir müssen Krankheit erkennen oder ausschließen. Die Klinik kriegt nur Geld, wenn sie bei Ihnen irgendwas untersucht, operiert oder irgendwelche Leistungen erbringt, die abrechenbar sind. Und die Krankenkassen kriegen nur Geld, wenn Sie kranke Versicherte haben, möglichst solche, die auf dem Papier kränker sind, als sie dann später in der Praxis Kosten verursachen. Es ist ein irres System.
Aber gäbe es beim Einschreibverfahren nicht zu wenig Diagnostik und Therapie?
Man muss Einschreibungen mit Anreizen für erwünschte Leistung kombinieren: Eine Praxis in der Primärversorgung erhält dann eine Pauschale für jeden eingeschriebenen Patienten, den sie betreut. Darüber würde sie rund 80 Prozent ihres Honorarvolumens einnehmen. 20 Prozent würden durch erwünschte Leistungen erlöst, das könnten zum Beispiel Pflegeheimversorgungen sein oder sinnvolle Früherkennungsuntersuchungen. Außerdem könnte man nach Qualitätskriterien vergüten, zum Beispiel wenn eine bestimmte Influenza-Impfquote erreicht wird. Anhand der elektronischen Patientenakte, EPA, sieht man, ob die Patienten leitliniengerecht behandelt werden.
Warum ist es so schwierig, etwas am Gesundheitssystem zu ändern?
Das liegt unter anderem an der sogenannten Selbstverwaltung und am Föderalismus: Wir haben 17 Kassenärztliche Vereinigungen und rund 100 Krankenkassen, 16 Landesgesundheitsminister, 17 Krankenhausgesellschaften und so weiter. Und alle haben Lobbyinteressen. Das Krankenhaussystem ist nicht mehr zukunftsfähig, die ambulanten Praxen, so wie sie jetzt aufgestellt sind, ebenfalls nicht. Wir haben einen riesigen Nachholbedarf bei der digitalen Transformation.
Darüber würden wir gern mehr erfahren. Wo stehen wir bei der Digitalisierung?
Bislang bedeutet Digitalisierung im Gesundheitswesen die Elektrifizierung von Formularen wie Krankschreibungen oder Rezepten.
E-Mail statt Fax.
Genau. Dabei geht es darum, Gesundheitsversorgung neu zu denken. Schlechte analoge Prozesse müssen neu gedacht und designt, andere Akteure und Berufsgruppen miteinander vernetzt werden. Die Tech-Giganten zum Beispiel kommen von vornherein über ihre plattformökonomischen Modelle. Amazon war ja mal ein Buchhändler, heute ist er dabei, ein digitales weltumspannendes Ökosystem aufzubauen und auch Digital-Health-Angebote zu machen.
Wie verändert das die Gesundheitsversorgung?
In den USA bietet Amazon mit innovativen Konzepten Diagnostik und Therapie, gerade im Primärversorgungsbereich, an, zunächst war das Telemedizin über Amazon Care, seit 2022 mit der Plattform Amazon Clinic, wo verschiedene Videosprechstundenanbieter vermittelt werden. Die Sparte Amazon Diagnostics bietet Schnelltests, aber auch Vororttests: Ein Fahrer kommt, nimmt eine Probe, Sie kriegen am gleichen Tag das Ergebnis. Die dritte Säule ist Amazon Pharmacy. Mit dem RxPass gibt es eine Flatrate, mit der 53 rezeptpflichtige Wirkstoffe pauschal für einen Monat inklusive Lieferung für nur fünf Dollar angeboten werden.
Ein Kaffee bei Starbucks.
Ja, das ist natürlich ein Wahnsinnskampfpreis. In Texas liefern sie jetzt Medikamente mit Drohnen aus. Mehr als 500 verschiedene Medikamente werden innerhalb von 30 bis 60 Minuten vor Ihrer Haustür abgelegt. 2023 hat Amazon One Medical gekauft für 3,9 Milliarden Dollar, ein Unternehmen mit 182 größeren Hausarztpraxen, sogenannten Primary-Care-Zentren. Die hat Amazon verbunden mit einer appbasierten Telemedizin. Für Amazon-Prime-Kunden gibt es inzwischen eine Jahresflatrate für nur 99 Dollar. Dafür können Prime-Kunden jederzeit einen Videokontakt zu einem Arzt oder einer Ärztin von One Medical machen oder einen Termin in einem dieser 182 Zentren in 25 Bundesstaaten buchen.
Wo in diesem Gefüge ist noch Platz für den Hausarzt?
Das ist die Frage. Ich meine, wir steuern mit und ohne Amazon darauf zu, dass wir künftig eine digital unterstützte Teamversorgung in sektorenübergreifenden, mit Maximalversorgern vernetzten, Versorgungszentren haben werden. Cloud und KI und die darauf basierende digitale Transformation werden extrem weitreichende Veränderungen bewirken. Es wird eine interprofessionelle Versorgung geben, nicht nur gemeinsam durch Haus- und Fachärzte unter einem Dach, sondern auch durch Medizinische Fachangestellte (MFA), Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis (VERAH), Physician Assistants und andere. Diese regionalen Primärversorgungszentren werden auch Beobachtungsbetten haben.
Also eine neue Form von Krankenhaus?
Mitnichten: Die 400 bis 600 kleinen Krankenhäuser, die wir haben, werden in der jetzigen Form schlicht überflüssig. Vor allem auf dem Land werden, oft durch Umwandlung kleiner Krankenhäuser, solche Zentren entstehen, in denen Haus- und grundversorgende Fachärzte sowie andere Berufsgruppen bis hin zu Sozialarbeitern zusammenarbeiten. Diese regionalen Zentren sind digital und auch über Personalrotation in Aus- und Weiterbildung eng mit den hoch spezialisierten Maximalversorgern in der großen Stadt vernetzt. In zukünftig auch personell besser ausgestatteten Maximalversorgerhäusern wie den Unikliniken sind rund um die Uhr Spezialisten, die etwa bei Tumorerkrankungen, komplexen Eingriffen sowie bei Schlaganfall oder Herzinfarkt schnell und perfekt helfen können. Drei oder vier Tage nach einer Operation wechseln die Patienten ins Regionalversorgungszentrum, wo es Beobachtungs- und Pflegebetten gibt. Da können die Angehörigen sie wieder wohnortnah besuchen.
Sie haben in einem Vortrag gesagt: »Amazon liebt ineffiziente Märkte.« Ist unser Gesundheitssystem ein gefundenes Fressen?
Amazon hat klare Strategien und es gibt auch noch andere, die Otto Group zum Beispiel, der nach Amazon zweitgrößte digitale Versandhändler Europas, mit großem Abstand, aber dennoch. Ein Vorstand von Otto hat mir gesagt: Der Gesundheitssektor ist für uns ein interessanter Markt. Sie seien perfekt in Organisation und Logistik, und da sie sich selbst nicht auskennen, haben sie die Aktienmehrheit von Medgate gekauft, dem größten Telemedizinanbieter Europas aus der Schweiz. Alle plattformökonomischen Unternehmen, ob Uber, Hotel Reservation Service, FlixBus oder Netflix, haben das gleiche Geschäftsmodell. Diese Unternehmen sind Matchmaker und können auf ihrem Marktplatz die Regeln bestimmen. Und verdienen bei jeder Transaktion mit.
Da führt kein Weg herum?
Kaum: Diese Unternehmen verfügen über gigantische Rechenzentren. Amazon ist heute der größte Cloud-Dienstleister der Welt. Das heißt, die meisten Daten, die irgendwo zentral gespeichert werden, liegen bei Amazon. Die kennen unsere Interessen, wissen, welche Bücher wir lesen, welche Filme wir schauen und demnächst, was wir für Krankheiten haben.
Klingt schrecklich.
Aber für den Patienten ist es vielleicht extrem bequem.
Solche Konzerne haben ja eine unglaubliche Macht.
Das ist gigantisch. Aber die Frage ist: Wird es so kommen? Was spricht dafür, was spricht dagegen? Jedenfalls ist Amazon extrem erfolgreich. Weil sie letztlich absolut kompromisslos die Bedürfnisse ihrer Kunden befriedigen. Und die Leute stört es nicht, dass sie ihre Daten preisgeben.
Warum machen die Menschen das mit?
Stellen Sie sich eine alleinerziehende Mutter mit einem fiebernden Kind zu Hause vor. Amazon Clinic bietet ihr eine Videosprechstunde rund um die Uhr. Sie kann also vom heimischen Sofa aus einen Arzt konsultieren, muss mit dem fiebernden Kind nicht aus dem Haus. Dann bietet ihr Amazon Diagnostics Schnelltests und Vor-Ort-Diagnostik bis hin zur Probenentnahme durch Amazon-Mitarbeiter – ebenfalls zu Hause. Dann bringt Amazon Pharmacy das verordnete Medikament innerhalb von 60 Minuten, eventuell auch per Prime-Air-Drohne. Das alles erprobt Amazon in den USA bereits und könnte dies demnächst auch auf dem deutschen Markt anbieten, auch wenn dieser als schwierig gilt. Vielleicht gründet Amazon dann eine Betriebskrankenkasse – zunächst für die Mitarbeiter, aber dann geöffnet für alle Bundesbürger, die dann einen Amazon-BKK-Prime-Tarif wählen können – mit minimalem Zusatzbeitrag und ohne Zuzahlung für 24/7-Telemedizin und Medikamenten-Lieferungen innerhalb von 60 Minuten. Das wäre schlagartig die attraktivste Krankenkasse Deutschlands. Jenseits aller Datenschutzbedenken.
Und wenn Otto schneller ist, macht es Otto?
Das werden wir sehen. Jetzt kommt zudem noch die KI ins Spiel. KI ermöglicht völlig neue Versorgungsprozesse und braucht Daten. Und Amazon kriegt und hat diese Daten. Und wenn Sie überlegen, dass sich Leute eine Standwanze zu Hause hinstellen, etwa Alexa oder Siri, spätestens dann treten wir in ein ganz neues Zeitalter ein. Die KI kann dabei sehr viel Gutes bewirken, hat aber auch manipulatives Potenzial.
Was wird KI noch können?
Da gibt es zum Beispiel aus dem Silicon Valley die Firma Forward Health. Die haben jetzt den CarePod, die erste Praxis ohne Personal, vorgestellt, sie nennen es auch AI Doctor’s Office. Sie öffnen mit Ihrem Smartphone die Tür, ein freundlicher KI-Avatar erhebt die Anamnese, es folgt eine von der KI angeleitete Selbstdiagnostik mit diversen Sensor-Devices. Da gibt’s keine Krankenschwester, keine medizinische Fachangestellte, keinen Arzt, es gibt außen vor nur noch eine Art Hausmeister, einen Attendant, der die Verbrauchsmaterialien auffüllt. In China gibt es schon länger solche Videoboxen, mit den wichtigsten Medikamenten in einem Automaten. Das ist also schon Realität. Welche Schlüsse können wir daraus für unser System ziehen?
Unser System ist zu teuer.
Sehr ineffizient und viel zu teuer.
Blöde Kombination. Müssen wir uns vor der Zukunft fürchten? Oder sagen Sie, na ja, wenn man erst mal die Vorteile geschmeckt hat, dann wird einem der Kuchen schon munden.
Ich sehe angesichts rasanter Entwicklungen und faszinierender Möglichkeiten sehr viele potenzielle Vorteile. Ich bin insofern absolut fortschrittsaffin. Vieles kann man anders und besser organisieren. Man kann etwa Schulungen oder Aufklärungen für Patienten sehr gut auch mit der KI machen: Man erzählt ja immer das Gleiche. Auch Human-in-the-Loop-Ansätze, wo die KI den Arzt oder die Pflegenden gezielt bei der Diagnostik oder Therapie unterstützt, halte ich für eine riesige Chance. Das Problem ist, dass KI-fähige Hochverfügbarkeits-Rechenzentren erforderlich sind, um das alles in Echtzeit zu bewältigen, und dass aktuell die Entwicklung von generativen KI-Modellen fast ausschließlich außerhalb von Europa stattfindet. Die Tech-Giganten nutzen ihre plattformökonomischen Möglichkeiten, liefern sich ein Wettrennen, investieren unvorstellbare Summen und sind inzwischen nahezu uneinholbar. Amazon investiert zusätzlich 150 Milliarden Dollar in seine Cloud-Zentren und schießt mehr als 3000 eigene Satelliten ins All. Wir in Europa wollen zunächst alles ausführlich ethisch bewerten. Richtig. Wir wollen den Datenschutz hochhalten. Richtig. Wir wollen das regulieren. Auch richtig. Aber am Ende haben wir nur die bestregulierte KI. In China haben wir die schnellste. Und in Amerika die beste. Der Europäische Rechnungshof hat kürzlich festgestellt, dass Europa das KI-Wettrennen absehbar chancenlos verlieren wird.
Wie können wir die Dinge noch gestalten? Auch Ihr Ansatz beim Hausarztmodell zielt darauf ab, Herr der Lage zu sein.
Wir werden als Menschen auf absehbare Zeit auch weiterhin einen Menschen als Ansprechpartner wollen. Der weiß, welche von mehreren Therapien im Einzelfall angemessen ist. Der verschiedene Dinge auch durch Analogschlüsse zusammenbringt, was die KI bislang nicht kann. Die KI kann derzeit nur die Daten, die sie gefressen hat, reproduzieren. Aber sie kann sie noch nicht auf ein anderes Problem übertragen. Wir brauchen weiterhin eine Mensch-Maschine-Schnittstelle und hier neben den Spezialisten vor allem Generalisten, die den Überblick behalten, in unserer Nähe. Wir werden nach wie vor das Problem haben, dass Menschen im ländlichen Raum leben, in unterversorgten Stadtteilen mit unterschiedlichen Sprachen. Hier kann die KI sehr gut zu einer besseren Versorgung beitragen. Entsprechend trainierte Maschinen können sogar, das zeigen Studien, empathischer formulieren als wir. Aber nur die Ärztin oder der Arzt können empathisch sein.
Sie haben die Fehlsteuerung durch Fallpauschalen und Quartalsabrechnung erwähnt. Aber Amazon will auch Geld machen: Dann sagt eben die KI: »… und noch eine Hüfte, noch eine Hüfte, noch eine Hüfte«.
»Kunden, die eine neue Hüfte hatten, wollten auch eine zweite haben.«
Ist das eine Zukunft, vor der Sie eher Angst haben?
Ich sehe sehr viel mehr Vorteile als Probleme. Um die Probleme müssen wir uns gezielt kümmern. Ein Problem könnte sein, dass einzelne plattformökonomische Unternehmen sehr gewinnorientiert agieren und zu viel Macht bekommen. Das sollten wir verhindern. Ich berate den deutschen Hausärztinnen- und Hausärzteverband dahin, dass die selber eine Plattform aufbauen, auf der Praxen für ihre Patienten zum Beispiel entsprechende Angebote machen wie Terminbuchungen, Impfmonitoring, Prävention und so weiter. Vielleicht wird man irgendwann Kompromisse machen müssen, weil Amazon aufgrund der Nachfragemacht einfach die Medikamente sehr viel günstiger organisieren kann. Ich erwähne Amazon exemplarisch deshalb so oft, weil die nach meinen Analysen derzeit am weitesten sind und sie schon bald die Power haben, als Oligopol- oder sogar Monopolanbieter den Gesundheitsmarkt aufzurollen.
Und irgendwann können sie die Preise so gestalten, wie sie möchten.
Amazon wird nicht selber die Patienten versorgen. Es wird ein Geben und Nehmen sein. Aber es könnte sein, dass wir in den Callcentern solche Klick-Doctors sehen, die dann genauso abhängig wie ein Uber-Fahrer arbeiten werden. Solche Ärzte sitzen dann vielleicht auf Mallorca, gehen morgens schwimmen und machen mittags ein paar Telekonsultationen. Aber genauso wie beim Uber-Fahrer steuert die Plattform die Aufträge und bestimmt den Tarif, es gibt keine Absicherung im Krankheitsfall, keine Arbeitslosenversicherung.
Das entspricht auch nicht dem gesellschaftlichen Status eines Arztes.
Aber das machen jetzt schon viele. Bei Medgate in der Schweiz oder doctor.de in Berlin zum Beispiel gibt es schon jede Menge Ärzte, die im Homeoffice Videosprechstunden machen.

Und sind das die guten Ärzte?
Medgate hat angeblich ein ganz ausgefeiltes System der Qualitätssicherung. Sie nutzen zum Beispiel Algorithmen, die zu einer digital unterstützten Diagnostik führen: Sie haben Kopfschmerzen? Haben Sie das schon länger? Halbseitig oder beidseitig? Mit Übelkeit oder nicht? Welche Medikamente nehmen Sie? Waren Sie im Ausland und so weiter. So wird ein Symptom systematisch digital unterstützt und dokumentiert abgeklopft.
Die klassische Differenzialdiagnose, oder?
Vielleicht sogar besser: Da wird dann auch keine relevante Frage vergessen. Man könnte auch sehen, wie viele der Patienten, die Sie beraten haben, sich später noch mal gemeldet haben oder plötzlich ins Krankenhaus mussten, was auf eine Fehldiagnose hinweist. Mit einem solchen System kann ich auch sehr gut Qualitätssicherung betreiben. Die Arbeit wird transparenter. Davor haben manche Ärzte Angst.
Welche Rolle übernimmt in diesem Zukunftsszenario mein Hausarzt?
Er wird eher Teammitglied, Mensch-Maschine-Schnittstelle, empathischer Begleiter, der den Patienten vor zu viel falscher Medizin schützt. Im sektorenübergreifend tätigen Gesundheitszentrum wird er auch Patienten in Betten betreuen. Er holt sich die Spezialisten gezielt hinzu. Wenn man das klug organisiert, wird die Versorgung für die Menschen gerade in der Peripherie besser als heute.
Werden Hausärzte künftig besser verdienen?
Sie sind schon heute gar nicht mehr am Ende der Einkommensskala nach Fachgebieten, sondern irgendwo im Mittelfeld. Aber Laborärzte oder Radiologen verdienen derzeit noch deutlich besser. Für eine gute hausärztliche Versorgung müssen wir auch bei der Honorierung ansetzen, damit wir dafür die besten Leute gewinnen. Wobei ich nicht primär den Arzt, sondern das Team honorieren würde.
Wie meinen Sie das?
Bislang wird von ambulant tätigen Ärzten eine persönliche Leistungserbringung gefordert, er kann kaum an andere Berufsgruppen delegieren. Wenn die MFA zum Beispiel einen Routine-Hausbesuch macht, was sie gut machen könnte, dann wird das fast nicht bezahlt. Wenn man aber sagt, die Einschreibung und die Versorgung durch die Praxis werden bezahlt, dann kann sich die Praxis selbst überlegen, wie sie die Betreuung organisiert. In Primary-Care-Zentren in Skandinavien zum Beispiel sind Gemeindeschwestern, Hebammen und andere Berufsgruppen im Team, die nehmen den Ärzten viele Aufgaben ab. Die sehen bei chronisch Kranken eigenständig mehrmals im Jahr den Patienten. Und das wird dann auch angemessen bezahlt. Das gibt es bei uns nur in der hausarztzentrierten Versorgung, insbesondere in Baden-Württemberg.
Wo hat die Digitalisierung Vorteile für die medizinische Versorgung – abgesehen von den geringeren Kosten?

Wir kennen zum Beispiel circa 6000 verschiedene seltene Erkrankungen. Über vier Millionen Menschen leiden darunter, viele wissen das aber nicht. Man erkennt diese Erkrankungen nicht so ohne Weiteres. Mithilfe der elektronischen Patientenakte und der KI in den Praxen könnte man zukünftig bestimmte Konstellationen, die auf seltene Erkrankungen hinweisen, herausfiltern und den Hausarzt darauf aufmerksam machen. Ein weiterer Vorteil sind die Möglichkeiten bei Medikamentenrückrufen. Der Patient erfährt davon normalerweise nichts – weil die Chargen derzeit nicht registriert werden und wegen des Datenschutzes. Wenn Ihr Auto einen Defekt an der Bremse hat, kann der Hersteller das jederzeit zurückrufen. Wenn Ihr Medikament wegen Verunreinigung vom Markt genommen wurde, geht das nicht.
Muss sich auch künftig jeder einzelne Arzt das Equipment und das Know-how aneignen?
Ich wurde schon vor zehn Jahren in Estland gefragt: Ihr druckt das noch auf Papier? Wieso das denn? Also das ist Deutschland. Wir sind ein digitales Entwicklungsland. Und das Knirschen, das wir jetzt bei der Umsetzung etwa des E-Rezepts erleben, hat mit den veralteten, dezentralen, nicht kompatiblen Strukturen zu tun. Es gibt mehr als hundert verschiedene Praxisverwaltungssysteme, die von Unternehmen gestrickt wurden, die das bunt zusammengekauft haben. Teilweise läuft das noch auf DOS-Basis, wenn Ihnen das etwas sagt. Wir brauchen hier internationale Standards. Die erste Anwendung aus der neuen Welt ist gerade zugelassen worden, der TI-Messenger.
Nie gehört.
Als erster Hersteller hat Famedly eine Zulassung für das deutsche Gesundheitssystem erhalten. TI-Messenger ermöglichen auf der Basis eines hochsicheren Protokolls, das sich Matrix nennt, eine Ende-zu-Ende-verschlüsselte Übertragung von Informationen zwischen verifizierten Nutzern – ähnlich wie bei Threema oder Signal. Zunächst zwischen Ärzten, Zahnärzten und Apotheken. Dann kommen Pflegedienste, Krankenkassen und auch Patienten dazu. Jeder von uns wird früher oder später damit Kontakt haben. Ab 2025 kriegt außerdem jeder Bürger eine elektronische Patientenakte – es sei denn, man lehnt diese ab, was ich nicht empfehlen würde. Da ist zunächst der Medikamentenplan drin, später kommen der Impfausweis, ein Notfalldatensatz mit Hinweisen auf Allergien, Laborbefunde, Arztbriefe, Vorsorge- und Patientenvollmachten etc. hinzu.
Wenn Sie, das sieht der kommende Europäische Gesundheitsdatenraum vor, demnächst im Urlaub ins Krankenhaus kommen, kann der spanische oder französische Arzt sehen, aha, Sie nehmen ein blutverdünnendes Mittel, Sie haben eine Penicillin-Allergie und so weiter. Da müssen wir aber erst mal hinkommen. Ideal wäre es, wenn die Software mit einheitlichen Schnittstellen zentral bereitgestellt, gepflegt und gegen Cybercrime-Angriffe geschützt wird: Infrastructure und Software as a Service – für jede Klinik, jede Praxis, jeden Physiotherapeuten. Die müssten sich um diesen Kram dann nicht mehr einzeln kümmern. Und da kommt wieder Amazon ins Spiel: Das ist der weltweit größte Anbieter von solchen Cloud- und KI-Lösungen. Aber das hören die deutschen Anbieter der Praxisverwaltungssysteme natürlich nicht gern.
Werden wir es schaffen, unser Gesundheitssystem fit für die Zukunft zu machen?
Ich bin grundsätzlich optimistisch. Es ist gut, dass 2023 zwei Gesetze im Bundestag beschlossen wurden, die endlich diesen Weg eröffnen – das Digitalgesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Bei Gesundheitsdaten geht es eben nicht nur darum, sie bestmöglich zu schützen, sondern sie auch bestmöglich zu nutzen. Primär für individuelle Diagnostik und Therapie sowie sekundär für gemeinwohldienliche Forschung, Arzneimittel- und Patientensicherheit, Qualitätssicherung sowie Steuerung, etwa im Pandemiefall. Ich sehe hier weitaus mehr Chancen und Möglichkeiten als Risiken.
Vielen Dank für das spannende Gespräch.
Das Interview führten Dr. Anke Sauter und Dr. Markus Bernards, Redaktion Forschung Frankfurt.

Zur Person / Ferdinand Gerlach, Jahrgang 1961, studierte Humanmedizin in Göttingen und promovierte dort. Später studierte er noch Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen (Public Health) an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Dort wurde er 1992 Facharzt für Allgemeinmedizin und habilitierte sich 1998. Daneben praktizierte er in Bremen und Kiel als niedergelassener Arzt. Nach zwei Jahren als Leiter des Arbeitsbereichs Qualitätsförderung in der Abteilung Allgemeinmedizin der MHH erhielt er einen Ruf an die Universität Kiel, wo er als Direktor das Institut für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums leitete. Seit 2004 ist er Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Goethe-Universität. 16 Jahre war Gerlach Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und der Pflege, der sogenannten Gesundheitsweisen, davon elf Jahre (bis 2023) dessen Vorsitzender. Die Gesundheitsweisen beraten Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung auf wissenschaftlicher Basis.
gerlach@allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de
Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2024: Vom Molekül zum Menschen