Zwischen Subjekt und Objekt

Workshop zur Debatte über „human remains“. Ein Nachbericht

Ein Workshop am Fachbereich Medizin hat sich mit einem komplexen Thema befasst: Unter dem Titel „Umgang mit menschlichen Überresten“ diskutierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Psychiatrie, Anatomie, Dermatologie, Ethnologie und Geschichte über die verschiedenen Implikationen von Sammlungsobjekten menschlicher Herkunft. Der Workshop sollte eine Diskussion über mögliche Regeln in Gang bringen, die in einer Art Handreichung für Fragen rund um dieses Thema münden sollen. Denn Präparate aus menschlichem Gewebe gibt es in zahlreichen medizinischen Sammlungen. Und während heute der würdevolle Umgang mit „Körperspenden“ klar geregelt ist, weiß man bei historischen Objekten oft nicht, ob der Mensch, dem sie entnommen wurden, damit einverstanden war.

Gedenktafel mit der Aufschrift "In Dankbarkeit denen, die Forschung Lehre dienten. Die Lernenden und Lehrenden des Fachbereichs Medizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität", Foto: Christof Schomerus
Foto: Christof Schomerus

Fächerübergreifende Diskussion

Aber darf man überhaupt von „Objekten“ sprechen, wenn man mit Menschlichem zu tun hat? Schon bei der Wortwahl gehen die Meinungen auseinander: Passt der Begriff „menschliche Überreste“? Oder sollte man lieber von „human remains“ sprechen? Oder – wofür vor allem die Vertreterinnen und Vertreter der Medizin plädierten – von „menschlichem Gewebe“ oder „menschlichen Präparaten“? Dass der geisteswissenschaftliche und der medizinische Blick auf das Thema sich durchaus in Teilen voneinander unterscheiden, liegt auf der Hand: Während hier vor allem die kulturelle Bedeutung der Präparate im Fokus steht, geht es dort um die medizinische Ausbildung und um die Erforschung von Krankheiten. Das aber machte die Diskussionen im Rahmen des Workshops umso interessanter – und zwar für alle Beteiligten. Und am Ende stand die Erkenntnis: Das Thema ist zu wichtig, um es nur innerhalb der eigenen Disziplin zu diskutieren, und eine vorsichtige und transparente Vorgehensweise ohne gegenseitige Unterstellungen führt am ehesten zum Ziel. Und: Jeder Fall ist anders gelagert und dennoch kann man an Beispielen lernen.

Eigentlich richtete sich die Veranstaltung vor allem an Mitglieder der Goethe-Universität und des Universitätsklinikums Frankfurt, denn auch an deren Instituten gibt es in den Sammlungen Präparate menschlicher Herkunft. So waren Vertreterinnen und Vertreter der Dr. Senckenbergische Anatomie der Universitätsmedizin Frankfurt vertreten, der Psychiatrie, des Universitätsarchivs, der Paläoanthropologie, der Dermatologie, aber auch der Medizingeschichte und Kulturanthropologie sowie die seit Anfang April am Historischen Seminar ansässige Koordinatorin des Forums Universitätsgeschichte. Aber auch an anderen Hochschulen und Institutionen stieß das Thema auf Interesse: Die Anatomien der Unis in Mainz und Heidelberg hatten sich ebenso angemeldet wie die Sammlungskoordinatorinnen und Museumskuratoren. Eingeladen hatten Dr. Moritz Verdenhalven, der an der Klinik für Psychiatrie ein Provenienzprojekt zu menschlichen Überresten leitet, die Sammlungskoordinatorin der Goethe-Universität Dr. Judith Blume sowie das interdisziplinär arbeitende Klinische Ethik-Komitee.

„Vom Umgang mit Human Remains an der Anatomie Tübingen. Der lange Weg zur historischen Perspektive“ – unter diesem Titel berichtete die Historikerin Prof. Benigna Schönhagen in ihrem Vortrag von ihren Erfahrungen. 2022 sollte sie eine Ausstellung zur Geschichte der Tübinger Anatomie konzipieren. In diesem Zusammenhang kam es zu einer Debatte über ein spezielles Gräberfeld, das seit 1849 von der Universitäts-Anatomie genutzt wurde. Wie erinnern an die vielen Menschen, deren Körper ohne ihre Einwilligung für anatomische Untersuchungen genutzt wurden – viele von ihnen waren Opfer der NS-Gewaltherrschaft? Seit 1950 ist das Gräberfeld Gedenkstätte, aber bis zum würdigen Gedenken, das jedem Opfer einen Namen gibt, ist es noch ein langer Weg: Mehr als 1000 Körper sind hier bestattet, nur etwas mehr als die Hälfte sind namentlich bekannt. Das ist nicht untypisch für den Umgang mit der NS-Vergangenheit um die Jahrtausendwende und in den Jahrzehnten zuvor: Auch an der Frankfurter Uni-Klinik wurden Human Remains noch Anfang der 1990er Jahre in einem gemeinsamen Grab bestattet, ohne den Versuch, vorher die Opfer zu identifizieren.

Nachbildungen statt echter Körper?

Was darf man zeigen? Wofür brauchen wir noch Präparate? Und wer waren die Menschen, denen das Gewebe entnommen wurde? Diese Leitfragen sind am Eingang der Tübinger Ausstellung, sie waren auch an das Publikum gerichtet. Zuvor waren die historischen Präparate in der Schausammlung offen im Hörsaalgebäude präsentiert worden, während der Ausstellung nun konnte kann man die menschlichen Überreste nun, oberhalb und unterhalb der Ausstellungslinie deponiert, nur noch durch Milchglas sehen, was ein bewusstes Hinschauen voraussetzte. Die Antworten der Besucherinnen und Besucher seien sehr unterschiedlich ausgefallen, so Schönhagen. Auch Medizinstudentinnen und -studenten brachten sich intensiv in die Debatte ein. Und in der Anatomie wurde die Entscheidung getroffen, zukünftig keine menschlichen Überreste aus Unrechtskontext mehr in der Schausammlung zu zeigen. In der kurzen Meinungsrunde nach dem Vortrag wurde deutlich: Auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops in Frankfurt haben sehr unterschiedliche Perspektiven. Ist die Anschauung anhand echter Körper für Studierende überhaupt noch notwendig in Zeiten perfekter Kunststoffnachbildungen, Videotechnik und KI? Sollte man menschliche Präparate vielleicht ganz vermeiden? Das wirft auch die Frage nach der Notwendigkeit von Präparationskursen im Medizinstudium auf. Deren Bedeutung betonte Prof. Thomas Deller von der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Frankfurter Universitätsmedizin: Dabei gehe es nicht nur um die Ausbildung angehender Ärztinnen und Ärzte im Fach Anatomie, sondern auch um die emotionale Auseinandersetzung mit dem Tod und mit dem Schicksal der Körperspender. Schon seit den 1990er Jahren bringen angehende Mediziner in Frankfurt ihre Dankbarkeit gegenüber den Körperspendern bei einer würdevollen Trauerfeier zum Ausdruck. Deller plädierte dafür, anatomische Sammlungen für die Medizinerausbildung zu verwenden. Da sich auch Nichtmediziner für anatomisches Wissen interessierten, wie die Nachfrage zur Ausstellung „Körperwelten“ gezeigt hat, sollte auch darüber nachgedacht werden, ob und wie eine Anatomische Sammlung für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann.

Mit vorgeburtlichen Präparaten befasste sich der Vortrag von Dr. Michael Markert, der von 2017 bis 2019 an der Universität Göttingen ein Provenienzforschungsprojekt zur Humanembryologischen Dokumentationssammlung Blechschmidt in der Göttinger Anatomie durchgeführt hat. Blechschmidt „sammelte“ schon in der NS-Zeit Embryonen und Föten, die zum Teil mit großer Wahrscheinlichkeit aus Zwangsabtreibungen stammten, setzte seine Sammeltätigkeit aber auch nach dem Krieg fort, ohne die Einwilligung der Mütter einzuholen, die eine Fehlgeburt erlitten oder einen Abbruch durchgemacht hatten. Auf Basis der Präparate stellte Blechschmidt 60 großformatige Kunststoffmodelle her. Die echten Embryonen und Föten werden bis in unser Jahrtausend aufbewahrt, obwohl sie zum Teil trockengefallen waren und keinen wissenschaftlichen Nutzen mehr hatten. Einige wurden in der Zwischenzeit bestattet. Eine kleine Ausstellung unter Mitwirkung von Studierenden im Ausstellungsraum der Modelle würdigt heute auch das Schicksal der namenlosen Mütter.

Die Einwilligung der Betroffenen ist bei heutigen Präparaten eine Grundvoraussetzung. Doch gilt das auch für Abbildungen, historische Röntgenbilder zum Beispiel? Damit befasste sich Medizinhistorikerin Prof. Sabine Schlegelmilch von der Universität Würzburg. In weiteren Vorträgen ging es um konservatorische Aspekte, um ethische Überlegungen zu Verbleib, Bestattung oder Entsorgung von Human Remains. Mit eher historischen Rätseln der Anatomie und ihrer Aufdeckung befassten sich die Vorträge der Heidelberger Präparatorin Dr. Sara Doll, die die Verwechslung des Schinderhannes-Skeletts mit dem des „Schwarzen Jonas“ aufgedeckt hat, und des Frankfurter Anatoms PD Dr. Helmut Wicht, der über die Fälschung des Zwick’schen Schädels sprach.

Keine Standardlösungen

„Ich finde es gut, dass die Goethe-Universität den verantwortungsvollen Umgang mit human remains als universitätsweite Aufgabe versteht. Der Frankfurter Workshop war für die Mainzer Kolleginnen und Kollegen sehr bereichernd. Wir konnten uns regional und überregional stärker vernetzen und werden sicher weiter diskutieren“, sagt Lisa Roemer, Sammlungskoordinatorin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. „Standardlösungen wird es nicht geben“, fasst Veranstalter Moritz Verdenhalven nach dem Workshop zusammen. Aber es sei wichtig, sich mit dem Thema zu beschäftigen und die Gedanken, die man sich macht, auch zu dokumentieren. „Auch eine Handreichung kann nur Problemfelder benennen und mögliche Lösungen aufzeigen. Entscheiden muss man dann von Fall zu Fall“, so Verdenhalven. So könnten auch Ausstellungen gerechtfertigt sein – unter der Prämisse einer sensiblen, abwägenden Vorgehensweise.

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