Medizinische Hilfe für alle

Wie Gesundheitskioske eine Lücke im Gesundheitssystem schließen könnten

Medizin näher zu den Menschen bringen – besonders zu denen, die sie am dringendsten brauchen: Dafür will Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in benachteiligten Gegenden Gesundheitskioske einrichten. Doch in Politik und Krankenkassen regt sich Widerstand. Wie sich Gesundheitskioske rechtlich umsetzen ließen, erforscht Andrea Kießling, Professorin für Sozial- und Gesundheitsrecht an der Goethe-Universität Frankfurt.

In einer idealen Welt«, räumt Andrea Kießling ein, »bräuchte es keine Gesundheitskioske.« Doch die Professorin für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht an der Goethe-Universität Frankfurt weiß nur zu gut: Von idealer Welt ist das deutsche Gesundheitswesen ziemlich weit weg. Mit seinen komplizierten Strukturen, zugeschnitten auf Ausgleich zwischen mächtigen Interessengruppen wie Ärzten, Krankenhausverbänden, Pharmafirmen und Krankenkassen, verlangt das System Patienten im Übermaß ab, was Fachleute wie Kießling »Gesundheits­kompetenz« nennen: nützliches Wissen etwa um offene Sprechstunden oder das Leistungsspektrum von Hausärzten. Dass Allgemeinmediziner und sogar Krankenkassen Termine bei Fachärzten vermitteln. Oder dass Notfallpraxen an Wochenenden oft die bessere Wahl sind als die über­lasteten Notaufnahmen von Krankenhäusern. Der deutsche Gesundheitsdschungel überfordert vor allem Menschen mit psychischen Problemen, niedriger Bildung oder zu geringen Sprachkenntnissen. Sie landen in Deutschland oft zu spät beim Arzt. Oder gleich in der Notaufnahme.

Im Hamburger Stadtteil Billstedt gibt es schon seit 2017 einen Gesundheitskiosk. Foto: Daniel Reinhardt, Picture Alliance

Um den Zugang zum Gesundheitssystem zu er-leichtern und Patienten zur richtigen Anlaufstelle zu lotsen, will Bundesminister Karl Lauterbach deshalb deutschlandweit Gesundheitskioske einrichten – besonders in Gegenden mit wenigen Haus- und Kinderärzten, Psychotherapeuten und Pflegekräften, aber vielen Gebrechlichen und chronisch Kranken, Bürgergeldbeziehern und Menschen mit Migrationsgeschichte.

Es ist eine Idee mit Potenzial, findet Andrea Kießling. Die Professorin für Sozial- und Gesundheitsrecht an der Goethe-Universität Frankfurt hat gerade gemeinsam mit ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Amelie Folttmann eine Studie über »Gesundheitskioske als Gegenstand des Gesundheitsrechts zwischen Sozialraum und gesetzlicher Krankenversicherung« veröffentlicht und außerdem eine Tagung renommierter Gesundheitsrechtler und Praktiker in Berlin über »Zugang zum Gesundheitssystem« organisiert. Kießling glaubt: Gut erreichbar an Bahnhöfen oder in Fußgänger­zonen, für alle zugänglich ohne Termin und ausgestattet mit fremdsprachenkundigen Pflegekräften, könnten Gesundheits­kioske unbürokratisch erste Einschätzungen zu gesundheitlichen Beschwerden geben und bei Bedarf auch Arzttermine vermitteln. Umgekehrt könnten Ärzte an Gesundheits­kioske überweisen, damit diese die Patienten beispielsweise bei Ernährungsumstellungen oder der planmäßigen Einnahme von Medikamenten besser unterstützen. Auch wer sich schwertut, verordnete Hilfsmittel wie ein ­Hörgerät zu beantragen, soll im Gesundheitskiosk Hilfe erhalten: beim Ausfüllen von Antragsformularen oder bei Telefongesprächen mit der Krankenkasse etwa, notfalls auch durch Vermittlung an Spezialisten bei Wohlfahrtsverbänden oder die Unabhängige Patienten­beratung. Die Hoffnung im Bundesgesund­heitsministerium: Gesundheits­kioske könnten Erkrankungen wie Bluthochdruck, Übergewicht oder Diabetes Typ 2 vorbeugen oder diese zumindest eindämmen, Ärzte entlasten – und so letztlich auch Kosten sparen. Eine erste Evaluation, die Kießling zitiert, schreibt dem Gesundheitskiosk im Hamburger Stadtteil Billstedt, der 2017 als erster im Modellprojekt gestartet ist, denn auch positive Effekte zu. Demnach sank etwa die Zahl an sich vermeid­barer Krankenhausbehandlungen im Stadtteil. Doch wie alle Präventions­maßnahmen werden auch Gesundheitskioske zunächst einmal Kosten verursachen: laut Bundesgesundheitsministerium und Experten pro Kiosk und Jahr rund 400 000 Euro. Hochgerechnet auf 1000 Kioske deutschlandweit wären das 400 Millionen Euro. Wenig im Vergleich zu den knapp 466 Milliarden Euro, die das deutsche Gesundheitssystem laut Statis­tischem Bundesamt im Jahr 2021 kostete, aber viel Geld in Zeiten steigender Kranken­kassenbeiträge und Spardrucks auf die öffentlichen Haushalte.

Lauterbach: Krankenkassen und Kommunen sollen die Kosten teilen

Gesundheitsminister Karl Lauterbach will weiter um sein Konzept der Gesundheitskioske kämpfen und so für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft sorgen. Foto: Foto: Marcus Brandt, Picture Alliance

Aufbringen sollen die Millionen für Gesundheitskioske nach dem Willen des zuständigen Bundesministers Karl Lauterbach vor allem die gesetzlichen Krankenkassen: Knapp drei Viertel der Kosten hätten sie nach bisherigen Plänen des Ministers zu tragen. Aber auch Städte und Gemeinden müssten Gesundheitskioske auf ihrem Gebiet mit rund 20 Prozent bezuschussen. Viele von ihnen sind jedoch überschuldet. Gerade Kommunen, deren Einwohnerschaft besonders von Gesundheitskiosken profitieren würden, dürfte das nötige Geld fehlen: Städte und Gemeinden mit vielen Bürgergeldbeziehern beispielsweise. »Solche Kommunen könnten aus Finanznot darauf verzichten, von den Krankenkassen die Einrichtung von Gesundheitskiosken zu verlangen«, warnt Andrea Kießling. Zur Einrichtung von Gesundheits­kiosken zwingen kann Kommunen übrigens niemand – auch nicht der Bundesgesundheitsminister. »Durchgriffsverbot« nennen das Fachleute wie Kießling.

Widerstand aus Politik und Krankenkassen

Die Grenzen ministerialer Macht spürte Lauterbach zuletzt: Sowohl in der Freien Demokratischen Partei (FDP), dem Koalitionspartner in der Bundesregierung, als auch beim Deutschen Städte- und Gemeindebund, der Interessenvertretung kreisangehöriger Kommunen, formiert sich zunehmender Widerstand gegen Gesundheitskioske. Im jüngsten Gesetzentwurf »zur Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune« waren die Kioske nicht mehr enthalten. Doch der Minister stellte klar: An seinen Plänen halte er fest.

Die Kritiker aus der Politik sehen in Gesundheitskiosken teure Doppelstrukturen. Aber auch gesetzliche Krankenkassen argumentieren so. Aus einem ersten Kiosk haben sich Krankenkassen bereits zurückgezogen: dem Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt. Die Beratungen seien nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen, ließen Barmer, DAK-Gesundheit und Techniker Krankenkasse verlauten. Vielmehr handele es sich um öffentliche Daseinsvorsorge. Im Klartext: Die Kommune sollte die Kosten alleine tragen. Wie in Hamburg könnten Krankenkassen deutschlandweit die Einrichtung von Gesundheitskiosken behindern. Um das zu ­vermeiden, rät Gesundheitsrechtlerin Kießling, gesetzlich klar zu regeln, wann Krankenkassen Gesundheitskioske mitfinanzieren müssen. So könnte die Bundesregierung Kommunen etwa einen Rechtsanspruch auf Mitfinanzierung von Gesundheitskiosken gegen die Krankenkassen zuschreiben, wenn der Anteil an Bürgergeldbeziehern oder anderen Bedürftigen wie in Hamburg-Billstedt prozentuale Grenzwerte übersteigt.

Dreh- und Angelpunkt Finanzierung

Doch der Widerstand aus Politik und Krankenkassen zeigt: Lauterbachs Plänen für Gesundheitskioske drohen zumindest Einschnitte. Wie die aussehen können, zeigt die Entwicklung des Gesundheitskiosks in Hamburg-Billstedt nach dem Ausstieg von Barmer und Co.: Zwar finanzierten AOK und Mobil Krankenkasse den dortigen Gesundheitskiosk weiter – allerdings »mit sehr schmerzhaften Einschnitten in der Personal- und Angebotsdecke und einer Reduzierung des Angebotes auf die Mitglieder eben dieser zwei Krankenkassen«, wie die Trägergesellschaft »Gesundheit für Billstedt-Horn« verkünden musste. Für Andrea Kießling sind solche Selektivverträge zwischen einzelnen Kassen und Kommunen nur Notlösungen, die den ­Nutzen von Gesundheitskiosken einschränken: »Die Kioske sollen ja nicht nur den Versicherten einzelner Krankenkassen einen einfachen Zugang zum Gesundheitssystem eröffnen, sondern allen Ratsuchenden«, betont die Gesundheits- und Sozialrechtlerin. Und ergänzt: »Wenn es den im Gesundheitsministerium festgestellten Bedarf an Beratung und Unterstützung in Gesundheitsfragen tatsächlich gibt, stellt sich nach der Streichung der Gesundheitskioske aus dem Gesetzentwurf ja die Frage, wie denn nun dieser Bedarf gedeckt werden soll.«

Photo: Uwe Dettmar

Zur Person / Andrea Kießling, Jahrgang 1981, ist seit 2022 Professorin für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht sowie Direktorin des Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges) am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität. 2021 hat sie sich mit der Arbeit »Das Recht der öffentlichen Gesundheit. Krankheitsprävention und Gesundheits­förderung als Aufgaben des Staates« an der Universität Bochum habilitiert. In der Coronapandemie wurde sie regelmäßig als Sach­verständige in Gesetzgebungsverfahren zu Änderungen des Infektionsschutzgesetzes angehört. An der Goethe-Universität hat Andrea Kießling auch die wissenschaftliche Leitung der Goethe-Uni Law Clinic für Migration und Teilhabe übernommen.
kiessling@jur.uni-frankfurt.de

Photo: private

Der Autor / Jonas Krumbein, Jahrgang 1985, hat in Freiburg und Durham (England) Geschichts- und Politikwissenschaft studiert und arbeitet nebenberuflich als freier Journalist.
j.m.krumbein@icloud.com

Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2024: Vom Molekül zum Menschen

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