Bluttransfusionen sind kein Allheilmittel

Blut ist gar nicht so knapp, wie immer angenommen wird, meint Kai Zacharowski

Der Anästhesiologe und Intensivmediziner Kai Zacharowski hat das Patient Blood Management auf nationaler und internationaler Ebene mitentwickelt. Er plädiert für durchgreifende Änderungen des Gesundheitssystems im Hinblick auf den Umgang mit Blut. Dazu gehört eine Umstellung auf Blutsparen – nicht nur bei Operationen, sondern schon bei der Diagnose.

Die vielen Blutbeutel täuschen: Laut Blutgruppen­barometer des DRK-Blutspendedienstes ist im Juli 2024 der Blutvorrat der Gruppen A+, A-, 0+ und 0- kritisch bis bedrohlich gering. Foto: DRK Blutspendedienst Baden-Württemberg – Hessen

Dirk Frank: Herr Professor Zacharowski, bevor wir auf das Thema Blutsparen und Patient Blood Management zu sprechen kommen: Unter Blutarmut leiden auch in unserer Gesellschaft mehr Menschen, als man meinen könnte.

Kai Zacharowski: Zuerst einmal: Blut­armut ist sehr verbreitet. Etwa zwei Milliarden Menschen leiden weltweit unter einer Form von Blutarmut, also ungefähr jeder vierte Erdenbürger. Ein Drittel davon entfällt auf den Eisenmangel. Warum Eisenmangel? Es gibt Länder, da wird wenig oder gar kein Fleisch gegessen, wie zu Beispiel im Vegetarier-Land Indien, oder im Südsudan, wo einfach den meisten Menschen kein Fleisch zur Verfügung steht. Da tritt Eisenmangel sehr verstärkt auf. Auch in Deutschland haben Vegetarier und Veganer damit zu tun. Regelmäßig kommen Patienten zu mir, die dann alle ein bis zwei Jahre eine Eisenspritze verabreicht bekommen. Streng genommen handelt es sich erst einmal um ein Symptom, aber ich nenne es Erkrankung deswegen, weil es einen direkten Impact hat auf die Gesundheit des Menschen.

Immer wieder kommt es in Deutschland zu Engpässen bei den Blutkonserven. Es muss also mehr gespendet werden, um den ­großen Bedarf zu decken – oder nicht?

Die Diagnose ist schlichtweg falsch. Wir haben in Deutschland circa 85 Millionen Einwohner, und wir führen 18 Millionen operative Interventionen pro Jahr durch. Dabei kann der Einsatz von Blut beziehungsweise Fremdblut erforderlich sein. Damit kommt praktisch jeder vierte bis fünfte Bürger in Deutschland pro Jahr einmal unters Messer. Meinen Sie, das ist indiziert? Nein. Ich schätze mal vorsichtig, dass in Deutschland mindestens 20 Prozent, wahrscheinlich sogar eher 30 Prozent der Operationen und Interventionen, also ungefähr 4,5 bis 5 Millionen, nicht nötig sind. Ein weiterer Aspekt: Denken Sie, dass jede Ärztin, jeder Arzt genau weiß, wann ein Patient Blut braucht? Das macht jeder anders, es wurde weder systematisch gelehrt noch gelernt. Auch deswegen hat Deutschland die höchste Pro-Kopf-Blutverbrauchsrate der Welt. Wir verbrauchen doppelt so viel Blut pro Person wie die Niederlande. Dabei sind beide Länder hinsichtlich ihrer Bedarfe im Gesundheitssystem gleich. Also kann an dieser Stelle etwas nicht stimmen.

Es geht also vor allem darum, das System auf Blutsparen umzustellen. Das ist ein Paradigmenwechsel, der auch einen gewissen Bewusstseinswandel voraussetzt. Was müsste dafür getan werden?

Durch Zentrifugation wird das Spenderblut in verschiedene Bestandteile aufgetrennt. Foto: DRK Blutspendedienst Baden-Württemberg – Hessen 

Das Problem in unserem System ist die Planbarkeit. Wir kennen in Deutschland quasi keine Wartelisten. Heute wird sich oft darüber beschwert, dass wir in einer Zweiklassengesellschaft leben, dass der arme Kassenpatient zwei Wochen auf einen Termin beim Hausarzt oder beim Spezialisten warten muss. Das stimmt so aber nicht! Ich habe über acht Jahre in Großbritannien gearbeitet; im National Health System gibt es wirklich Warte­listen. Für alles, was nicht dringlich ist, wartet man sechs bis zwölf Monate. Das ist auch nicht weiter schlimm. Denn man bereitet dort die Patienten besser auf die Operationen vor. In Deutschland scheint das nicht zu funktionieren. Wenn man dem Patienten sagt: »Du hast da noch ein anderes Problem, wir behandeln jetzt erst einmal Deine ­Blutarmut, bevor Du deine neue Hüfte bekommst«, dann geht er womöglich zu einem anderen Chirurgen. Und der macht es, ganz wie gewünscht. Wir brauchen gesetzliche Vorschriften für elektive, also planbare Operationen, damit wir einen potenziellen Transfusionsbedarf verhindern können. Bei kleineren Eingriffen spielt das keine Rolle. Aber es gibt viele Operationen, dazu gehört auch eine Hüft-OP, bei der das Transfusionsrisiko größer als zehn Prozent ist. Hier muss gesetzlich geregelt werden, dass der Patient mindesten zehn Tage vor der OP einem Anästhesiologen vorgestellt wird. Das würde aber dazu führen, dass in Deutschland auf einmal die OP-Zahlen erst einmal einbrechen, bis das System sich wieder normalisiert hat. Damit würden wir aber wirklich etwas für das deutsche Gesundheitssystem tun. Der Hintergrund ist ja folgender: Wir wissen, dass die präoperative Anämie einhergeht mit signifikant mehr Komplikationen wie Nierenschäden, Infektionen und/oder allergischen Reaktionen. Das geht einher mit einem wesentlich höheren Blutbedarf, signifikant längeren Krankenhausverweil­dauern und Tod. Wenn eine Anämie bereits vor einem operativen Eingriff besteht, dann muss das auch gefälligst therapiert werden.

Ein weiterer Aspekt sind ja die Blut­verluste bei der OP. Wenn sich diese einstellen, muss man das nicht unbedingt mit Fremdblut ausgleichen?

Wenn das Ärzteteam gut organisiert ist und weiß, dass es bei dem Eingriff bluten kann, dann wird man das Patientenblut auffangen. Dies kann dann »gewaschen« werden mit sogenannten Cell Savern. Nach der Reinigung kann man das Blut dem Patienten wieder verab­reichen. Das heißt, man schafft damit ein zu 100 Prozent kompatibles Blut für den Patienten. In Deutschland sind die gesetzlichen Anforderungen für diesen Prozess allerdings komplexer geworden, so dass viele Krankenhäuser dieses Verfahren nicht mehr anwenden. Statt­dessen nimmt man lieber Fremdblut, das aber sehr kostbar ist. Und wir wissen, dass Fremdblut nie zu 100 Prozent zu einem anderen Menschen passt. Wir sind genetisch alle unterschiedlich. Fremdblut kann beispielsweise zu Immunsuppressionen führen. Mir geht es natürlich nicht darum, Blut schlechtzureden, ganz im Gegenteil, ich habe schon vielen Menschen das Leben mit Blut gerettet. Aber die Falschanwendung stellt in der Tat ein nicht zu vernachlässigendes Problem dar.

Das Thema diagnostische Blutentnahmen haben Sie sich auch angeschaut.

Ich habe vor Jahren mal den Begriff »krankenhausassoziierte Blutarmut« geprägt. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Wenn ein Patient schwer krank ist, führen wir zwei bis drei Mal am Tag eine große Labordiagnostik durch. Zwischendurch, wenn ein Patient beatmet wird, nehmen wir Blutgasanalysen ab. Da kommen ganz schnell 500 Milliliter in der Woche zusammen. Bei einer älteren Dame, bei einem Gewicht von 60 Kilo mit knapp drei Liter Blutvolumen, fehlt bereits nach zwei Wochen ein Liter Blut. Das Problem auf der Intensivstation: Durch die Immunsuppression bildet der Körper auch erst einmal nicht wirklich viel Blut nach. Das heißt, die Patienten rutschen alle in eine kräftige Anämie hinein.

Ein Problem stellen auch die bisher verwendeten Blutröhrchen dar.

Wir haben durch einen Test belegt, dass wir für die Diagnostik viel weniger Blut benötigen. Aber damit war das Problem noch nicht gelöst. Wenn man die üblichen Blutröhrchen nur zur Hälfte auffüllen würde, bekäme man falsche Werte. Wir konnten den Produzenten davon überzeugen, eine Neuentwicklung zu machen, bei der die Außenhülle gleich groß, der Innenbereich aber um die Hälfte kleiner ist. Auch die Substanzen, die eine Gerinnung verhindern, müssen anders gemixt werden. In Frankfurt sparen wir damit bereits seit einer Dekade fast 2000 Liter Blut pro Jahr ein, das wir unseren Patienten nicht abnehmen müssen. Ein weiterer Effekt: Blut aus dem Labor ist hoch­infektiöser Müll, der verbrannt werden muss. Somit sind die Einsparungen bei der Blutentnahme auch gut für die Umwelt.

Und es ist sicherlich auch ein Kostenfaktor. 

Stärker auf Eigenblut zu setzen, ist absolut wirtschaftlich. Bevor man Fremdblut einsetzen kann, muss vorher Diagnostik betrieben werden: Sie müssen wissen, welche Blutgruppe der Patient hat; das nötige Blutprodukt prüfen und es gegebenenfalls kaufen. Es muss entsprechend transportiert werden und schließlich müssen Sie es vor dem Einsatz nochmal prüfen, bevor es transfundiert wird. Damit sind die Komplikationen noch nicht mit eingerechnet.

Man könnte sagen: Durch Blutsparen wird der Markt gewissermaßen kleiner, aber vor allem wird die für unvermeidbare Transfusionen notwendige Blutmenge gesichert.

Leere Regale: Für eine gute Versorgung müsste das Kühlhaus gefüllt sein. Foto: DRK Blutspendedienst Baden-Württemberg – Hessen

Der Bedarf an Blut wird natürlich nicht weniger, denn die Bevölkerung altert. Es wird daher künftig mehr Krebs­erkrankungen geben. Dennoch müssen wir das Patient Blood Management vorantreiben. Wir sind meiner Meinung nach sowohl medizinisch als auch ethisch verpflichtet, Blut einzusparen. Die Nutzung von Fremdblut sollte nach Möglichkeit eingeschränkt werden, damit es denen zukommen kann, die es wirklich brauchen.

Das Konzept des Patient Blood ­Management findet offensichtlich zunehmend Verbreitung.

Krankenhäuser, die das Patient Blood Management eingeführt haben – das sind insgesamt über hundert Einzelmaßnahmen – können ihre Patienten sicherer versorgen. Wir sind für das deutsche Netzwerk und für die Erfolge, die wir erzielt haben, unter anderem mit dem Humanitarian Award der amerikanischen Patient Safety Movement Foundation ausgezeichnet worden. Einer der größten Erfolge unserer Arbeit ist sicherlich, dass die Barmer Krankenkasse das Thema aufgegriffen und ihre Daten hat analysieren lassen. Und sie kam zu den gleichen Ergebnissen. Im Rahmen eines Selektivvertrages mit der ­Barmer können wir Patienten präoperativ diagnostizieren und behandeln. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für ihre Versicherten, spart zugleich aber auch Geld. Das Ziel muss natürlich sein, dass Patient Blood Management deutschlandweit eingeführt wird und alle Krankenkassen mitmachen. Wir brauchen noch ungefähr fünf Jahre, dann wird das auch in Deutschland gesetzlich verankert sein – hoffentlich. Bis dahin wird man mich immer auch als Botschafter des Patient Blood Management sehen.

Das Gespräch führte Dr. Dirk Frank,
stellvertretender Pressesprecher der Goethe-Universität.

Patient Blood Management ist ein medizinisches Konzept zur Steigerung der Patientensicherheit durch Stärkung der körpereigenen Blutreserven. Die Anwendung des Konzepts im Krankenhausalltag beruht im Wesentlichen auf drei Maßnahmenbündeln, den drei tragenden Säulen des Patient Blood Managements: Frühe ­Diagnose und Therapie einer ggf. vorhandenen Blutarmut; Minimierung des Blutverlustes – vermehrte Nutzung fremdblut­sparender Maßnahmen; rationaler Einsatz von Blutkonserven.
Die Zahl der Patient-Blood-Management-­Initiativen wächst weltweit. In Deutschland wurde Patient Blood Management zunächst an den Universitäts­kliniken Frankfurt, Bonn, Kiel und Münster eingeführt. Die Einführung von Patient Blood Management in den medizinischen Alltag wird bereits seit 2011 von der Weltgesundheitsorganisation gefordert.

Foto: Universitätsklinikum Frankfurt
 

Zur Person / Kai Zacharowski, Jahrgang 1967, studierte Humanmedizin in Mainz und promovierte dort zum Dr. med. Nach seiner zweiten Promotion zum Ph.D. an der Queen Mary University of London erhielt er 2002 einen Ruf als Junior­professor an die Universität Düsseldorf, wo er an der Klinik für Anästhesiologie tätig war und sich 2003 habilitierte. 2006 folgte er einem Ruf an die Universität Bristol auf den Lehrstuhl für Anästhesiologie und Intensivmedizin am dortigen University Hospital. Seit 2009 ist er Professor an der Goethe-Universität und Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie des Universitätsklinikums Frankfurt. Er forscht zu Patientensicherheit, Patient Blood Management, Blutgerinnung, Big Data in der Anästhesie und Intensivmedizin, angeborener Immunität, kardiovaskulärer Medizin und Intensivmedizin. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2015 den Humanitarian Award der US-amerikanischen Patient Safety Movement Foundation.
Zacharowski@med.uni-frankfurt.de

Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2024: Vom Molekül zum Menschen

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